Textauszug: Das Kind auf der Liste

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Das Kind auf der Liste

Kurz Information

Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie

Mit einem Vorwort von Romani Rose

Aufbau Berlin 2018

 

 

Willy Blum war 16 Jahre alt, als er in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Von ihm blieb nur ein Name auf einer Liste, neben dem durchgestrichenen Namen Stefan Jerzy Zweigs, der durch Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ weltberühmt wurde.

Über Willy Blum und seine Familie wusste man bislang nichts. Annette Leo hat sich auf die Suche gemacht. Sie erzählt die Geschichte einer Familie von Wandermarionetten-Spielern und zugleich auch die Geschichte des Verschweigens einer Opfergruppe in der Nachkriegszeit: die der Sinti und Roma.

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Auf der Gefangenenkarte gab es kein Foto von Willy Blum, aber ich kann der »Personenbeschreibung« entnehmen, dass er 1,60 Meter groß war und »schlank«, was vermutlich eine beschönigende Umschreibung seines elenden körperlichen Zustands war, dass er schwarze Haare, braune Augen und eine Narbe am Kopf hatte. Acht Jahre besuchte er die Volksschule, als Beruf ist »Schausteller« eingetragen. Es ist derselbe Beruf, der auch auf der Karte seines Vaters Aloys Blum angegeben wird, darüber hinaus kann ich dort lesen, dass dessen Vater – Willys Großvater – Bernhard Blum hieß und ebenfalls Schausteller war. Bei dem Wort »Schausteller« stelle ich mir den Besitzer einer Losbude oder eines Karussells auf dem Rummelplatz vor. Auf der Karteikarte von Aloys’ Bruder Karl, der mit seinen beiden erwachsenen Söhnen Alfred und Siegfried mit demselben Transport nach Buchenwald gekommen war, steht jedoch, dass dieser Großvater (hier wird er Berthold genannt) einen Zirkus besaß. Dass auch Aloys Blum nicht einfach Schausteller war, sondern ein Marionettentheater betrieben hatte, sollte ich erst später erfahren, als ich mich zu den Geburtsregistern und Adressbüchern vorgearbeitet hatte.

Die kryptischen Zahlen und Klammern in der Rubrik »Kinder« auf der Karteikarte von Willys Vater bedeuten offenbar: neun Kinder im Alter zwischen zehn und sechsundzwanzig Jahren. Wo waren die anderen Kinder, Willy Blums Geschwister? Vielleicht bei seiner Ehefrau Antonie Blum, geborene Richter, die – auch das ist hier vermerkt – „derz. im KL Ravensbrück“ inhaftiert war? Der neunjährige Rudolf unterzeichnete seine Karteikarte mit drei Kreuzen. In der Rubrik »Vorbildung« (als ob im KZ eine Nach- oder Weiterbildung stattfinden sollte!) steht »2 Kl. Volksschule«. Der Junge hatte also gerade begonnen, lesen und schreiben zu lernen und es im Schrecken von Auschwitz wieder vergessen.

Willy Blums Lebensgeschichte ist nur als Teil der Geschichte seiner Familie erzählbar. In ihrem Zentrum steht die mittlerweile versunkene Welt der Wandermarionettentheater. Aloys Blum, seine Frau Toni und ihre Kinder zogen mit dem Wohnwagen und einer Marionettenbühne durch das Land und präsentierten in Gasthöfen oder Gemeindesälen der Dörfer und Kleinstädte ihre Vorstellungen. Einzelne Mosaiksteine, aus denen sich ein Bild zusammensetzen lässt, konnten aus Geburtsregistern, Adressbüchern, Strafregistern, aus Unterlagen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« der NS-Sicherheitspolizei, den Überlieferungen der Reichstheaterkammer – und schließlich aus den Akten des Entschädigungsamtes des Landes Niedersachsen zutage gefördert werden. Doch diesem Bild ist zu misstrauen. Viele der Dokumente sprechen eine kalte Sprache. Es ist die Sprache der Bürokratie, die Leben nur in Tabellen und Formularen zu erfassen vermag. Es ist die Sprache des Vorurteils gegenüber einer Minderheit, deren vermeintliches Anderssein seit Jahrhunderten Quelle sowohl von Faszination als auch von Verachtung ist. Es ist die Sprache der Verfolger in Polizeiämtern und Gerichten, die Abweichungen von der Norm zum Verbrechen erklärten und mit Strafen belegten. Schließlich – in der Phase der schlimmsten, der tödlichen Verfolgung – ist es die Sprache der Täter, die auf der Grundlage ihrer pseudowissenschaftlichen, rassistischen Konstrukte Zehntausende Menschen als »Zigeuner« oder »Zigeunermischlinge« klassifizierten und dies als Begründung dafür nahmen, sie in Konzentrationslager zu verschleppen und zu ermorden.

Auf der Gefangenenkarte gab es kein Foto von Willy Blum, aber ich kann der »Personenbeschreibung« entnehmen, dass er 1,60 Meter groß war und »schlank«, was vermutlich eine beschönigende Umschreibung seines elenden körperlichen Zustands war, dass er schwarze Haare, braune Augen und eine Narbe am Kopf hatte. Acht Jahre besuchte er die Volksschule, als Beruf ist »Schausteller« eingetragen. Es ist derselbe Beruf, der auch auf der Karte seines Vaters Aloys Blum angegeben wird, darüber hinaus kann ich dort lesen, dass dessen Vater – Willys Großvater – Bernhard Blum hieß und ebenfalls Schausteller war. Bei dem Wort »Schausteller« stelle ich mir den Besitzer einer Losbude oder eines Karussells auf dem Rummelplatz vor. Auf der Karteikarte von Aloys’ Bruder Karl, der mit seinen beiden erwachsenen Söhnen Alfred und Siegfried mit demselben Transport nach Buchenwald gekommen war, steht jedoch, dass dieser Großvater (hier wird er Berthold genannt) einen Zirkus besaß. Dass auch Aloys Blum nicht einfach Schausteller war, sondern ein Marionettentheater betrieben hatte, sollte ich erst später erfahren, als ich mich zu den Geburtsregistern und Adressbüchern vorgearbeitet hatte.

Die kryptischen Zahlen und Klammern in der Rubrik »Kinder« auf der Karteikarte von Willys Vater bedeuten offenbar: neun Kinder im Alter zwischen zehn und sechsundzwanzig Jahren. Wo waren die anderen Kinder, Willy Blums Geschwister? Vielleicht bei seiner Ehefrau Antonie Blum, geborene Richter, die – auch das ist hier vermerkt – „derz. im KL Ravensbrück“ inhaftiert war? Der neunjährige Rudolf unterzeichnete seine Karteikarte mit drei Kreuzen. In der Rubrik »Vorbildung« (als ob im KZ eine Nach- oder Weiterbildung stattfinden sollte!) steht »2 Kl. Volksschule«. Der Junge hatte also gerade begonnen, lesen und schreiben zu lernen und es im Schrecken von Auschwitz wieder vergessen.

Willy Blums Lebensgeschichte ist nur als Teil der Geschichte seiner Familie erzählbar. In ihrem Zentrum steht die mittlerweile versunkene Welt der Wandermarionettentheater. Aloys Blum, seine Frau Toni und ihre Kinder zogen mit dem Wohnwagen und einer Marionettenbühne durch das Land und präsentierten in Gasthöfen oder Gemeindesälen der Dörfer und Kleinstädte ihre Vorstellungen. Einzelne Mosaiksteine, aus denen sich ein Bild zusammensetzen lässt, konnten aus Geburtsregistern, Adressbüchern, Strafregistern, aus Unterlagen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« der NS-Sicherheitspolizei, den Überlieferungen der Reichstheaterkammer – und schließlich aus den Akten des Entschädigungsamtes des Landes Niedersachsen zutage gefördert werden. Doch diesem Bild ist zu misstrauen. Viele der Dokumente sprechen eine kalte Sprache. Es ist die Sprache der Bürokratie, die Leben nur in Tabellen und Formularen zu erfassen vermag. Es ist die Sprache des Vorurteils gegenüber einer Minderheit, deren vermeintliches Anderssein seit Jahrhunderten Quelle sowohl von Faszination als auch von Verachtung ist. Es ist die Sprache der Verfolger in Polizeiämtern und Gerichten, die Abweichungen von der Norm zum Verbrechen erklärten und mit Strafen belegten. Schließlich – in der Phase der schlimmsten, der tödlichen Verfolgung – ist es die Sprache der Täter, die auf der Grundlage ihrer pseudowissenschaftlichen, rassistischen Konstrukte Zehntausende Menschen als »Zigeuner« oder »Zigeunermischlinge« klassifizierten und dies als Begründung dafür nahmen, sie in Konzentrationslager zu verschleppen und zu ermorden.