Publikationen
AuszugMirano Cavaljeti-Richter:
Auf der Flucht über den Balkan
Die Kindheitserlebnisse eines Sinto-Jungen während der NS-Zeit
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Annette Leo
Metropol Verlag Berlin 2022
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Verdienter Bürger oder NS-Täter?
Die Lebensgeschichte des Chronisten Rudolf Dörrier
Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung
Herausgegeben von Annette Leo und Bernt Roder
Museum Pankow 2022
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Das Kind auf der Liste.
Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie,
Berlin (Aufbau) 2018
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Die „Wunschkindpille“.
Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR (mit Christian König),
Göttingen (Wallstein) 2015
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Den Unterdrückten eine Stimme geben?
Die International Oral History Association zwischen politischer Bewegung und wissenschaftlichem Netzwerk (Hg. mit Franka Maubach),
Göttingen 2013
Erwin Strittmatter.
Die Biografie,
Berlin 2012
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Eichmann, Globke und die DDR, in:
„Das hat’s bei uns nicht gegeben!“
Antisemitismus in der DDR – Das Buch zur Ausstellung, Amadeu Antonio Stiftung (Hg.)
Berlin 2010.
„Mein Land verschwand so schnell…“
Sechzehn Lebensgeschichten und die Wende,
Weimar (Weimarer Taschenbuchverlag) 2009, Hg. mit Agnès Arp
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Antifaschismus, in:
Martin Sabrow, Erinnerungsorte der DDR
München (C.H. Beck) 2009.
Die Falle der Loyalität.
Wolfgang Steinitz und die Generation der DDR-Gründerväter und Mütter, in: Irmela von der Lühe u.a., „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945,
Göttingen (Wallstein) 2008.
„Das ist so’n zweischneidiges Schwert hier unser KZ…“
Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück,
Berlin (Metropol) 2007.
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Umgestoßen
Provokation auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Prenzlauer Berg 1988,
Berlin (Metropol) 2005
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Leben als Balance-Akt
Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler, Berlin,
(Metropol) 2005
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„Deutschlands unsterblicher Sohn…“
der Held des Widerstands Ernst Thälmann,
in: Rainer Gries/Silke Satjukow, Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR,
Berlin (Ch. Links) 2002
Vielstimmiges Schweigen
Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Hrsg. mit Peter Reif-Spirek und Mitautorin,
(Metropol) Berlin 2001
Zweierlei Geschichte
Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland (mit Bernd Faulenbach und Klaus Weberskirch),
Essen (Klartext) 2000,
Bilder mit und ohne Fragezeichen.
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, die Arbeiterklasse und die bildende Kunst,
in: Volks Eigene Bilder. Kunstbesitz der Parteien und Massenorganisationen der DDR,
Berlin (Metropol) 1999
Helden, Täter und Verräter
Studien zum DDR-Antifaschismus, Hrsg. mit Peter Reif-Spirek und Mitautorin,
Berlin (Metropol) 1999
Fürstenberg-Drögen
Schichten eines verlassenen Ortes (mit Stefanie Endlich und Florian v. Buttlar)
Berlin (Hentrich) 1994
Mythos Antifaschismus
Ein Traditionskabinett wird kommentiert,
Berlin (Ch. Links) 1992, Mitherausgabe und Beteiligung
Die wiedergefundene Erinnerung
Verdrängte Geschichte in Osteuropa (Hrsg. der deutschen Ausgabe und Mitautorin)
Berlin (BasisDruck) 1992
Briefe zwischen Kommen und Gehen
Berlin (BasisDruck) 1991
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Mirano Cavaljeti-Richter:
Auf der Flucht über den Balkan
Kurz Information
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Annette Leo
Metropol Verlag Berlin 2022
Am Ende seiner beruflichen Laufbahn hat der Opern- und Operettensänger Mirano Cavaljeti-Richter seine Lebensgeschichte niedergeschrieben. Er erzählt von seiner Kindheit in einer Großfamilie von Komödianten, die mit den Wohnwagen durch die kleinen Städte und Dörfer Deutschlands zogen und ihre Varieté-Programme vorführten.
1939 flohen sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung über die Grenze nach Italien. In beeindruckender, geradezu ergreifender Lakonie schildert Cavaljeti die dramatische Odyssee durch Italien, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien, in deren Verlauf sie nach und nach alles verloren, ihr Leben jedoch retten konnten.
Es handelt sich um einen der seltenen Berichte, die von einem Angehörigen der Minderheit selbst verfasst wurden. Wegen der Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft und der fortdauernden Diskriminierung waren in den Jahrzehnten nach der NS-Verfolgung nur wenige von ihnen bereit, das eigene Schicksal und das der Familienangehörigen öffentlich zu machen.
Verdienter Bürger oder NS-Täter?
Kurz Information
„Rudolf Dörrier war kein Nazi“, mit diesen Worten überschrieb der Freundeskreis der Chronik Pankow seine Stellungnahme zum Artikel des Historikers Harry Waibel, in dem dieser offengelegt hatte, dass der von ihnen allen verehrte Begründer der Chronik Pankow in den Jahren 1944/45 als Angehöriger des SS-Totenkopfbataillons Sachsenhausen Häftlinge bewacht hatte. „Dörrier ist als Vorbild ungeeignet“, zu diesem Schluss kam eine Initiativgruppe von Eltern und Lehrer*innen der nach ihm benannten Schule in Rosenthal. Die Debatte im Bezirk um die Neubewertung von Dörriers Biographie und Lebensleistung spitzte sich schnell auf die Frage zu, ob er weiterhin als Namenspatron für eine Grundschule dienen könnte/dürfte.
Doch auch nachdem die Schule 2020 den Namen abgelegt hatte, bewegt der Fall die Gemüter, und er polarisiert. Mit der Dokumentation von Rudolf Dörriers Jahrhundertleben, das 1899 im Kaiserreich begann und 2002 in der vereinigten Bundesrepublik endete, präsentiert das Museum eine differenzierte und komplexe Sicht auf die Geschehnisse und überlässt die Bewertung den Besucher*innen und Leser*innen.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Mai 2023 im Museumstandort Heynstraße 8, 13187 Berlin zu besichtigen.
Das Kind auf der Liste
Kurz Information
Die Geschichte von Willy Blum und seiner Familie
Mit einem Vorwort von Romani Rose
Aufbau Berlin 2018
Willy Blum war 16 Jahre alt, als er in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Von ihm blieb nur ein Name auf einer Liste, neben dem durchgestrichenen Namen Stefan Jerzy Zweigs, der durch Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ weltberühmt wurde.
Über Willy Blum und seine Familie wusste man bislang nichts. Annette Leo hat sich auf die Suche gemacht. Sie erzählt die Geschichte einer Familie von Wandermarionetten-Spielern und zugleich auch die Geschichte des Verschweigens einer Opfergruppe in der Nachkriegszeit: die der Sinti und Roma.
Textauszug
Auf der Gefangenenkarte gab es kein Foto von Willy Blum, aber ich kann der »Personenbeschreibung« entnehmen, dass er 1,60 Meter groß war und »schlank«, was vermutlich eine beschönigende Umschreibung seines elenden körperlichen Zustands war, dass er schwarze Haare, braune Augen und eine Narbe am Kopf hatte. Acht Jahre besuchte er die Volksschule, als Beruf ist »Schausteller« eingetragen. Es ist derselbe Beruf, der auch auf der Karte seines Vaters Aloys Blum angegeben wird, darüber hinaus kann ich dort lesen, dass dessen Vater – Willys Großvater – Bernhard Blum hieß und ebenfalls Schausteller war. Bei dem Wort »Schausteller« stelle ich mir den Besitzer einer Losbude oder eines Karussells auf dem Rummelplatz vor. Auf der Karteikarte von Aloys’ Bruder Karl, der mit seinen beiden erwachsenen Söhnen Alfred und Siegfried mit demselben Transport nach Buchenwald gekommen war, steht jedoch, dass dieser Großvater (hier wird er Berthold genannt) einen Zirkus besaß. Dass auch Aloys Blum nicht einfach Schausteller war, sondern ein Marionettentheater betrieben hatte, sollte ich erst später erfahren, als ich mich zu den Geburtsregistern und Adressbüchern vorgearbeitet hatte.
Die kryptischen Zahlen und Klammern in der Rubrik »Kinder« auf der Karteikarte von Willys Vater bedeuten offenbar: neun Kinder im Alter zwischen zehn und sechsundzwanzig Jahren. Wo waren die anderen Kinder, Willy Blums Geschwister? Vielleicht bei seiner Ehefrau Antonie Blum, geborene Richter, die – auch das ist hier vermerkt – „derz. im KL Ravensbrück“ inhaftiert war? Der neunjährige Rudolf unterzeichnete seine Karteikarte mit drei Kreuzen. In der Rubrik »Vorbildung« (als ob im KZ eine Nach- oder Weiterbildung stattfinden sollte!) steht »2 Kl. Volksschule«. Der Junge hatte also gerade begonnen, lesen und schreiben zu lernen und es im Schrecken von Auschwitz wieder vergessen.
Willy Blums Lebensgeschichte ist nur als Teil der Geschichte seiner Familie erzählbar. In ihrem Zentrum steht die mittlerweile versunkene Welt der Wandermarionettentheater. Aloys Blum, seine Frau Toni und ihre Kinder zogen mit dem Wohnwagen und einer Marionettenbühne durch das Land und präsentierten in Gasthöfen oder Gemeindesälen der Dörfer und Kleinstädte ihre Vorstellungen. Einzelne Mosaiksteine, aus denen sich ein Bild zusammensetzen lässt, konnten aus Geburtsregistern, Adressbüchern, Strafregistern, aus Unterlagen der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« der NS-Sicherheitspolizei, den Überlieferungen der Reichstheaterkammer – und schließlich aus den Akten des Entschädigungsamtes des Landes Niedersachsen zutage gefördert werden. Doch diesem Bild ist zu misstrauen. Viele der Dokumente sprechen eine kalte Sprache. Es ist die Sprache der Bürokratie, die Leben nur in Tabellen und Formularen zu erfassen vermag. Es ist die Sprache des Vorurteils gegenüber einer Minderheit, deren vermeintliches Anderssein seit Jahrhunderten Quelle sowohl von Faszination als auch von Verachtung ist. Es ist die Sprache der Verfolger in Polizeiämtern und Gerichten, die Abweichungen von der Norm zum Verbrechen erklärten und mit Strafen belegten. Schließlich – in der Phase der schlimmsten, der tödlichen Verfolgung – ist es die Sprache der Täter, die auf der Grundlage ihrer pseudowissenschaftlichen, rassistischen Konstrukte Zehntausende Menschen als »Zigeuner« oder »Zigeunermischlinge« klassifizierten und dies als Begründung dafür nahmen, sie in Konzentrationslager zu verschleppen und zu ermorden.
Die „Wunschkindpille“
(mit Christian König)
Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR
Wallstein, Göttingen 2015
Kurz Information
Im Jahr 1965 präsentierte der VEB „Jenapharm“ das neue Verhütungsmittel „Ovosiston“ auf der Leipziger Messe. Als erstes Ostblock-Land schloss die DDR damit rasch an die Entwicklung in den USA und in Westeuropa an. In Abgrenzung von der westichen „Antibaby-Pille“ wurde das Präparat offiziell als „Wunschkindpille“ propagiert, die es den Frauen ermöglichen sollte, Berufstätigkeit und Mutterschaft miteinander zu vereinbaren.
Anhand von lebensgeschichtlichen Interviews mit Frauen und Männern beleuchtet das Buch deren individuellen Umgang mit diesem staatlichen Angebot. Archivdokumente geben außerdem Einblicke in die Motive der Entscheidungsträger im SED-Politbüro sowie in das Engagement von Frauenrechtlerinnen, Mediziner*innen und Sexualaufklärer*innen.
„Die Pille war bekannt als das Ding, das man eben nimmt, wenn es so weit ist. Kondom kannte ich überhaupt nicht, vielleicht vom Hörensagen. Das fanden wir extrem altmodisch.“
Nina Ahrend, Jahrgang 1961
„Ich bin ja nie zum Frauenarzt gegangen. Folgedessen hab ich ja überhaupt keinen Anspruch auf `ne Pille gehabt. Aber Sie wissen ja, wie es hier war : Hier gab’s so ’nen alten Frauendoktor, und da sind manche Frauen auch hingegangen, aber ich bin da nicht hingegangen.“
Gerda Ehlers, Jahrgang 1935
Spiegel-Bestseller
Erwin Strittmatter
Die Biographie
Aufbau Berlin 2012 und Taschenbuch, Berlin 2019
Kurz Information
Noch im Kaiserreich, im Jahr 1912, wurde Strittmatter geboren; 1994 starb er in der vereinigten Bundesrepublik. Dazwischen erlebte er zwei Weltkriege, zwei Revolutionen, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, vierzig Jahre DDR und vier Jahre vereinigtes Deutschland. Ein Jahrhundertleben, das geprägt war von historischen Brüchen, Katastrophen und Zwängen, eine Erfolgsgeschichte als Autor, die auch nach dem Untergang der DDR nicht zu Ende war.
Den Stoff für viele seiner Romane nahm Strittmatter unmittelbar aus der eigenen Lebensgeschichte. Ob Lope, Stanislaus oder Esau – seine Helden haben große Ähnlichkeit mit ihrem Schöpfer, ihre Geschichten bewegen sich so nah entlang an dessen Lebenslinien, dass sie häufig mit ihm identifiziert wurden. Diese Lesart erscheint jedoch fragwürdig, spätestens seitdem vor einigen Jahren ein verschwiegenes Kapitel aus der Vergangenheit des Autors bekannt wurde: Während des Krieges hatte er einer Polizeieinheit angehört, die in Aktionen gegen die Zivilbevölkerung auf dem Balkan verwickelt war.
Die Biographie rekonstruiert mit Hilfe von Briefen, Tagebüchern, Erinnerungen von Zeitzeugen und Archivdokumenten die Geschehnisse hinter der literarischen Verdichtung. Sie untersucht Strittmatters Schweigen in der Nachkriegszeit, seine Selbst-Umdeutung zum Antifaschisten und fragt schließlich nach seinem Platz als Schriftsteller und Verbandsfunktionär in den politischen Konflikten der DDR.
„Behutsam werden die bekannten geschichtlichen Details eingeordnet, ohne Eifer und Zorn, aber auch ohne Schonung.“
Volker Hage, Der Spiegel
Textauszug
Von Dollgow aus führt eine Straße etwa zwei Kilometer durch den Wald zum Vorwerk Schulzenhof mit seinen sieben Häusern und dem kleinen Friedhof. Dort, in Sichtweite zu ihrem Hof, befinden sich die Gräber von Erwin und Eva Strittmatter. Den mittlerweile von Efeu halb überwachsenen großen Findling suchte Erwin Strittmatter zu Lebzeiten noch selbst aus, und er bestimmte auch die Inschrift. Unter einer der großen Tannen, die auf dem Hügel stehen, werde er liegen, schreibt er ganz am Schluss des dritten Teils des Romans „Der Laden“, und dieses Zitat ist auf einer Metalltafel neben dem großen Stein zu lesen. Den im Wald liegenden Stein habe er seinem Sohn Matthes gezeigt. Darauf sollten die Zeilen aus einem Gedicht seiner Frau stehen: »Löscht meine Worte aus und seht, der Nebel geht über die Wiesen …« Erwin Strittmatter war offenbar ein Mensch, der über den Tod hinaus seine Angelegenheiten geregelt haben wollte. Es sei ihm angenehm, zu wissen, wo er dereinst liegen werde, schreibt er. Warum hat er sich für seinen Grabspruch gerade diese Zeilen ausgewählt? Schließlich hatte er jahrzehntelang wie ein Besessener angeschrieben gegen den Gedanken an Auslöschen und Vergessen. Er wollte ein Werk hinterlassen, das auch der Nachwelt noch etwas bedeuten würde. Jeden Manuskriptentwurf, jede Notiz, jeden Brief, den er geschrieben hatte, hob er sorgfältig auf.
Vielleicht hatte die Wahl des Spruches mit seiner ganz persönlichen Vorstellung vom Tod zu tun, den er als »Verwandlung« begriff. Als ob er selbst oder auch seine Worte dann als Nebel von den Wiesen aufsteigen würden? Ein schönes Bild. Vielleicht aber ist diese Inschrift nur Ausdruck der zahlreichen Widersprüche, in denen und mit denen Erwin Strittmatter stets gelebt hat. An den Nebelvorhang, der, als er sich diese Inschrift wählte, noch seine Kriegszeit eingehüllt hatte, wird er dabei eher nicht gedacht haben. Und doch muss er gewusst haben, dass der Vorhang sich heben würde, spätestens wenn seine Frau und seine Söhne die im Archivkeller lagernden Dokumente aus jener Zeit lesen würden.
Annette Leo (Hrsg. mit Agnès Arp)
Mein Land verschwand so schnell
16 Lebensgeschichten und die Wende 1989/90
Weimarer Verlagsgesellschaft, Weimar und Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2009
Kurz Information
1989 war das Jahr der massenhaften Botschaftsbesetzungen und der Montagsdemonstrationen, das Jahr der Maueröffnung und des Zusammenbruchs der SED-Herrschaft. Es folgten einige Monate später die Währungsunion und deutsche Vereinigung. Eine gewaltige Erschütterung hatte den europäischen Kontinent erfasst und der „Wirkung tektonischer Beben analog“ traten in der Folge „in der Konstruktion der Geschichte fundamentale Verschiebungen ein“ (Dan Diner).
Für diesen welthistorischen Prozess der Umwälzung hat sich in Deutschland der Begriff „Wende“ eingebürgert. Dieses Wort sagt zugleich alles und nichts. In seiner unverbindlichen Schwammigkeit ist es anscheinend am ehesten in der Lage, die unterschiedlichsten Ereignisse, Erinnerungen und Bewertungen dieser Wochen und Monate aufzunehmen, sie zu einem widersprüchlichen, vielschichtigen Ganzen zu verbinden, das viele Anfänge und Enden hat, das aber noch längst nicht zu einem Ende gekommen ist.
Studierende an der Friedrich-Schiller-Universität Jena fragten im Jahr 2008 im Rahmen eines Seminars am Historischen Institut sechszehn Thüringerinnen und Thüringer nach ihren Lebensgeschichten und nach jener entscheidenden Zäsur am Ende der Achtzigerjahre, die alle ostdeutschen Biographien in der Rückschau unweigerlich in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ teilt wobei dieses „Vorher“ längst die Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, die es einmal besaß und nunmehr der Rechtfertigung, Verteidigung oder der Distanzierung bedarf.
Textauszug
Auszüge aus dem Interview mit Jakob Arnold* (Jahrgang 1948), Geschäftsführer der städtischen Verkehrsbetriebe einer Thüringer Stadt
*Name geändert
Ich bin in den ganzen Jahren einigermaßen mit Distanz zu dem System DDR unterwegs gewesen, insofern, dass ich in meiner Kindheit ein fast strenggläubig zu nennendes kirchliches Elternhaus hatte – da passte das nicht. Entweder du kannst sonntags in die Kirne gehen und das Glaubensbekenntnis aufsagen oder kannst am Montag irgendwelche atheistischen Grundlagen studieren. Das verbot sich auch irgendwo ein bisschen. Trotzdem, auch das will ich an dieser Stelle gleich schon sagen, bin ich angepasst gewesen an das System, das war halt so, das musste man fast durchgängig hinnehmen.
In der Schule gab es natürlich gelegentlich Reibereien, da ich weder bei den Jungen Pionieren noch bei der FDJ war, aber das war halt so, auch nichts Schreckliches.
Das erste nennenswerte Problem war dann eben in meinem Wehrdienst bei der NVA. Ich wurde aus der Berufsausbildung abgezogen, was keinem meiner Vorgänger in dieser Branche je passiert war. Das hat mir den Stachel ordentlich gesetzt. Und dann kam ich auch noch zu den Grenztruppen und wurde dort mit den Dingen konfrontiert, die man heute gelegentlich diskutiert – ob es da einen Schießbefehl oder etwas Ähnliches gab. Ich weiß genau, dass es da einen gab. Das Ding hieß Vergatterung – und da standen wir, hatten eine Waffe, scharf geladen, und da hatte man zu schießen.
Wegen einer unbedachten Äußerung bei der Ausbildung zum Grenzdienst wurde Jakob Arnold nur zum, Wachdienst vor der Kaserne und zu diversen „Sonderaufgaben“ eingesetzt.
Das war so richtig eine Politschule gewesen. So ein junger Unteroffizier, vielleicht zwei Jahre älter als ich, erzählte dann also: „Und hier der Grenzwall – und da wird geschossen und da ist es völlig egal, wer das ist. Und wenn wir dann dahin kommen, da ist das eben euer Vater gewesen, und da hat er als Grenzverletzer…“ Ich sag dann: „Da scheißt du dich in die Hosen“, wörtliche Rede! Also wenn das sein Vater war … weil solcher Schwachsinn, egal von wem abgesondert, das hätte mir auch ein anderer Mensch in einer anderen Armee erzählen können – ich hätte ihm nicht geglaubt. Das war mir nicht vermittelbar. Und durch so ein paar Bemerkungen hab ich offensichtlich die Weiche hinten rum gestellt und bin nie in die Verlegenheit gekommen, an der westdeutschen Grenze Dienst machen zu müssen.
Ich wurde nicht entlassen, ich wurde auch nicht eingesperrt, aber ich habe dann im rückwärtigen Dienst … sehr oft Offizierstischdienste … ich durfte viel Toiletten sauber machen. Ich habe Betten für die Offiziere gemacht und ähnliche Sachen, die ganz wichtig waren, die es also besonders berechtigt erscheinen ließen, in meinen Augen, dass ich deswegen diese berufliche Ausbildung nicht zu Ende bringen konnte.
Ich bin die meiste Zeit meiner Dienstzeit in Rudolstadt gewesen. Die Hauptaufgabe damals war für mich Wachdienst an dieser Kaserne, aller eben nicht an der Westgrenze. Und selbstverständlich hatte ich dort auch eine Maschinenpistole mit 60 Schuss scharfer Munition und bin bei jedem Dienst, den ich gemacht habe, vergattert worden. Das hieß, wenn hier ein Angriff ist, dann wird geschossen. Auf wen auch immer – wie gesagt, das wundert mich, dass das immer so ein heftig diskutiertes Thema ist. Ist aber nach meinem Dafürhalten in der Bundeswehr nicht anders. Also ein Wachposten geht nicht mit grünen Erbsen in der Patronentasche los. Egal ob hier oder dort.
Wir mussten einmal in Saalfeld einen Grenzsoldaten mit allen militärischen Ehren zum Friedhof begleiten, der in Berlin an der Grenze erschossen worden ist. Damals war das ein Versuch von Rotarmisten, die bewaffnet über Bord gehen wollten und sich den Weg freizuschießen versucht hatten. Insofern weiß ich, dass es da schon auch richtiges menschliches Leid in Richtung und Gegenrichtung gegeben hat. Also ich glaube, Tote kann man nicht miteinander aufrechnen.
Da bin ich dann doch im Nachhinein froh gewesen, dass mir da die kesse Lippe dieses Problem erspart hat, solche Entscheidungen treffen zu müssen.
„Das ist so ein zweischneidiges
Schwert hier unser KZ…“
Der Fürstenberger Alltag und das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
Metropol Berlin, 2007
Kurz Information
In den Jahren 1999 und 2000 befragte die Historikerin Annette Leo zusammen mit ihrem Kollegen Jens Schley etwa 35 Bürgerinnen und Bürger des Städtchens Fürstenberg der Geburtsjahrgänge 1913 bis 1933 nach ihren Lebensgeschichten und ihren Erinnerungen an das nahe gelegene Frauenkonzentrationslager. Sie trafen auf Misstrauen und Gesprächsbereitschaft, auf Abwehr und Offenheit, auf festgefügte Rechtfertigungsstrategien ebenso wie auf nachdenkliche Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen.
Im Verlaufe der Gespräche verblasste irgendwann die Frage, ob die Fürstenberger hingeschaut oder weggeschaut hatten, vor der Frage, wie sie ihre Leben gelebt hatten direkt neben dem Ort des Verbrechens und was für eine Rolle dies später in ihren Erinnerungen, in ihrem Umgang mit der Vergangenheit spielte. Es ging nicht mehr nur darum, was unsere Interviewpartner gesehen und wie sie auf das Gesehene reagiert hatten, sondern auch darum, ob und wie ihre Wahrnehmungen und Bewertungen sich nach dem Erlebnis von mindestens zwei gesellschaftlichen Brüchen – 1945 und 1989 – veränderten.
Textauszug
Erich Kemper (Tischlermeister)
Als ich Erich Kemper Anfang des Jahres 1999 kennenlernte, hatte seine Karriere als Zeitzeuge gerade erst begonnen. In den folgenden Jahren wurde der hochbetagte Mann ein gefragter Gesprächspartner für Schulklassen und Studentengruppen, er trat bei Seminaren in der Gedenkstätte auf und gab Interviews für Rundfunk und Fernsehen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Fürstenberger Mitbürger, die sich nur ungern zum Konzentrationslager äußern, hat Erich Kemper sich zum Reden entschlossen. Er erzählt von seinem Vater, dem Tischlermeister Kemper, dessen Firma von 1939 bis 1945 Aufträge der SS im KZ Ravensbrück ausführte. Er erzählt auch von den Häftlingen, die in der Werkstatt seines Vaters arbeiteten und die später Dankesbriefe an ihn schickten.
Ich traf Erich Kemper zum ersten Mal auf einer Versammlung des Fördervereins der Gedenkstätte. Ein kleiner Mann, für sein Alter sehr kräftig und beweglich. Er wirkte liebenswürdig und offen, sagte ein paar Worte über die Tischlerei und wie schrecklich das alles mit dem KZ gewesen sei. Dann sprach er von den vier Häftlingen, die in der Werkstatt gearbeitet hatten. Dank der Hilfe seiner Eltern seien sie „gut über den Krieg“ gekommen, während seine vier mit ihm zusammen zum Militär eingezogenen Kameraden den Krieg nicht überlebt hätten. Was hatte er damit sagen wollen? Dass es die Häftlinge besser getroffen hatten als die Soldaten? Oder wollte er auf diese Weise nur die gute Tat seiner Eltern hervorheben? „Wir alle haben gelitten“, sagte er und lächelte. Als ich ihn später besuchte und nach seinem Leben befragte, äußerte er sich häufig ähnlich ambivalent. Erich Kemper beschäftigt sich immer wieder mit der Vergangenheit. Es scheint, als suche er nach einer Formel, die alles zusammenhält, was sonst auseinanderfallen würde.
Ich besuchte ihn in seinem Haus an der Ravensbrücker Dorfstraße, wo er mit seiner Frau lebt. In diesem Haus hatten schon sein Vater und Großvater gelebt und in der Werkstatt als Tischler gearbeitet. Der Laden im Erdgeschoss des Hauses steht zu seinem großen Kummer seit Mitte der neunziger Jahre leer. Der letzte Mieter ist in das nahe gelegene Gewerbegebiet gezogen. „Zu vermieten“ steht groß an der Schaufensterscheibe, aber Herr Kemper hat keine Hoffnung, dass sich noch jemand findet, der dort ein Geschäft eröffnet. Auch in der Werkstatt, einem graugelben Backsteinbau, der quer zum Wohnhaus steht, wird schon lange nicht mehr gearbeitet. Weder sein Sohn noch seine inzwischen erwachsenen Enkel wollten die Tischlerei übernehmen. Dabei kann er es ihnen nicht einmal verdenken. Denn in der Abfolge der Tischlergenerationen hatte es 1960 einen Bruch gegeben. In diesem Jahr hatte Erich Kemper dem Druck der Staatsmacht nachgegeben und war in die Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) eingetreten. Als die Genossenschaft sich 1990 wieder auflöste, war es zu spät für einen Neubeginn als privater Handwerker. Erich Kemper war schon seit 1973 im Ruhestand, seine Nachkommen waren in andere Städte gezogen und hatten andere Berufe ergriffen.
In der Wohnung über dem Laden lebt er mit seiner Frau. Stolz zeigte er mir seine Möbel im Schlafzimmer, in der Küche, im Wohnzimmer, alles selbst gebaut, auch die kunstvolle
Umgestoßen
Provokation auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Prenzlauer Berg 1988
Metropol, Berlin 2005
Mit Fotos von Nadja Klier
Kurz Information
Zu Beginn des Jahres 1988 kletterten fünf Jugendliche mehrmals in der Nacht über die Mauer des Jüdischen Friedhofs an der Schönhauser Allee, stießen Grabsteine um und riefen antisemitische Parolen. Als die Polizei sie schließlich verhaftete, wurde der „Einzelfall“ zum DDR-Problem:
Die Vorbereitungen für eine Gedenkkampagne anlässlich des 50. Jahrestages des Novemberpogroms waren in vollem Gange. Die DDR wollte sich als „wahre Heimstatt“ der Juden präsentieren, als ein Staat, in dem die Wurzeln des Antisemitismus für immer ausgerottet seien. Es kam zu einem Schauprozess, bei dem die hohen Gefängnisstrafen für die 16/17jährigen Angeklagten schon vorher feststanden.
15 Jahre später suchte die Historikerin Annette Leo nach den Spuren des Geschehens. Sie sprach mit den Verurteilten, mit deren Mitschülern und Lehrern, mit den Anwälten und einem der Stasi-Vernehmer. Aus den unterschiedlichen Erinnerungen der Akteure entstand eine Momentaufnahme der DDR, ein Jahr vor ihrem Ende.
Textauszug
Als ich im Prenzlauer Berg Museum eine Ausstellung über die Schulgeschichte des Stadtbezirks vorbereitete, schlug der Leiter Bernt Roder vor, die Zerstörungen auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee in die Recherchen einzubeziehen. Drei der beteiligten Jugendlichen seien Schüler der Kurt-Fischer-Schule gewesen, insofern sei das doch auch ein Stück Schulgeschichte. Ich begann also, die Geschehnisse von damals zu rekonstruieren, schaute Dokumente in verschiedenen Archiven an und sprach mit einigen der Akteure.
Im Rückblick kommt es mir inzwischen seltsam vor, dass ich mich vor der Begegnung mit zwei der ehemaligen Täter tatsächlich ein wenig gefürchtet hatte. Mit Ausnahme eines kurzen, sehr frustrierenden Gesprächs in einem von rechten Jugendlichen besetzten Haus in Lichtenberg 1990 hatte ich bis dahin noch nie mit „richtigen Neonazis“ gesprochen. Würde ein Gespräch überhaupt zustande kommen, wenn ich meine Meinung und mein Interesse offenlegte? Ich hatte auch Angst, dass mich die Vorurteile und die Abwehrhaltung, die ich bei den Betreffenden vermutete, vielleicht verletzen und kränken würden. Die Realität war dann – wie so oft bei solchen Begegnungen – ganz anders.
Aus verschiedenen Gründen kam die Ausstellung über Schule im Prenzlauer Berg letztlich nicht zustande. Meine Beschäftigung mit den Geschehnissen des Jahres 1988 ging jedoch weiter. Die Geschichte gewann immer neue Dimensionen. Längst war meine Wahrnehmung nicht mehr allein auf die Aktivitäten der Staatssicherheit fixiert. So vieles andere spielte eine Rolle: Zerbrochene Utopien, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, verdrängte Vergangenheit und unterschwellige Botschaften, die von den Jugendlichen aufgenommen und ausgesprochen wurden. Irgendwann schien mir, als ob sich in der kleinen Welt zwischen Schule, Friedhof und Polizeirevier das ganze Panorama der späten DDR spiegelte.
Insofern handelt es sich um eine Geschichte, die noch nicht wirklich zur Vergangenheit geworden ist. Sie ist noch lebendig und schmerzt manchmal bei Berührung. Das habe ich nicht nur während der Gespräche mit den Beteiligten erfahren, sondern erneut, als ich sie um die Einwilligung für den vorliegenden Text bat. Während dieses schwierigen Prozesses wurden ein weiteres Mal die unterschiedlichen Verletzlichkeiten und die Konflikte sichtbar.
Leben als Balance-Akt
Wolfgang Steinitz
Kommunist Jude Wissenschaftler
Metropol Berlin, 2005
Kurz Information
Kaum vorstellbar, was sich da in einem einzigen Leben zusammendrängt: ein hochbegabter Sohn aus jüdisch-bildungsbürgerlichem Hause, der in jungen Jahren in die KPD eintrat und als Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes die Welt verändern wollte, der Widerstand gegen Hitler leistete, ins Exil floh, der zur Gründergeneration der DDR gehört und sich schließlich resigniert aus der Politik zurückzog.
Gleichzeitig gelang ihm eine einzigartige Karriere als international beachteter Volkskundler und Spezialist für finnisch-ugrische Sprachen In Sibirien zeichnete er die Lieder und Mythen eines kleinen Volkes auf. Nach seinem Lehrbuch erlernte eine ganze Generation von Schülern im Nachkriegsdeutschland die russische Sprache. Seine Sammlung revolutionärer Volkslieder wurde im Osten wie im Westen gleichermaßen populär.
Wolfgang Steinitz bezauberte die Menschen in seiner Umgebung mit einer „unwiderstehlichen Substanz“, wie Alfred Kantorowicz es nannte, aus Klugheit und Naivität.
Textauszug
Über die ersten Monate des Aufenthalts von Wolfgang Steinitz in Berlin von Januar bis Juni 1946 sind wir recht gut informiert, weil er in dieser Zeit Briefe an seine Frau Inge schrieb, die mit den beiden Kindern noch in Stockholm geblieben war. Eindrücklich schildert er darin seine Wege durch die Ruinenstadt Berlin, das Leben in ungeheizten Räumen, die gelegentlichen Besuche in einem halb zerstörten Kino, das Essen in der Kantine der Volksbildungsverwaltung und seine täglichen U-Bahnfahrten von Zehlendorf an die Universität. Auch die Ankunft der Gruppe der Remigranten am 18. Januar nachts auf dem Stettiner Bahnhof, wo niemand von der Partei sie empfing, ist auf diese Weise überliefert. Die Ankömmlinge wussten sich jedoch zu helfen. Sie „requirierten“ drei große Gepäck-Rollwagen und zogen zur nächsten Polizeiwache, wo sie für den Rest der Nacht unterkamen. Am nächsten Morgen brachte sie ein Lastwagen schließlich „in unser Haus“, wie Steinitz sich ausdrückt. Gemeint ist zweifellos die damalige kommunistische Partei-Zentrale in der Wallstraße, für viele Rückkehrer aus dem Exil der erste Anlaufpunkt. Dort habe man ihnen gut zu essen gegeben. Anschließend habe „Luises Vater“ mit der Gruppe gesprochen. Die Rede ist von Franz Dahlem, dessen Tochter Luise in Stockholm mit Karl Mewis zusammengelebt hatte. Franz Dahlem leitete damals die Kaderabteilung und galt als einer der mächtigsten Männer in der KPD.
Es wird nicht recht klar, warum Steinitz so verschlüsselt über seine enge Bindung an die Kommunistische Partei schrieb. War das noch die jahrelange Gewohnheit der Konspiration? Oder sorgte er sich, wer diesen Brief unterwegs lesen würde? Da zu dieser Zeit noch kein regulärer Postverkehr zwischen Deutschland und der übrigen Welt existierte, wird er seine Nachrichten an die Familie jemandem mitgegeben haben, der über die Grenzen reisen durfte, dem Angehörigen einer der Besatzungsmächte vielleicht oder einer Hilfsorganisation. Über diesen Punkt ist nichts überliefert. In den folgenden Briefen legte Steinitz allerdings seine Vorsicht allmählich ab und schrieb auch über Parteiangelegenheiten offener.
An diesem ersten Tag in der Wallstraße, so berichtet er weiter, hätten die Rückkehrer lange Fragebogen ausfüllen und außerdem einen ausführlichen Lebenslauf niederschreiben müssen, besonders über die Zeit nach 1933. Jeder habe selbst angeben sollen, wo und wie er arbeiten wolle. „Ich schreibe natürlich: Universität, Russ. Unterricht.“ In dieser Hinsicht hatte es für Wolfgang Steinitz nie einen Zweifel gegeben. Schon in seinem Brief an Johannes R. Becher vom 4. Juli 1945, in dem er um Hilfe bei einer beschleunigten Einreisegenehmigung in die Sowjetische Besatzungszone bat, hatte er geschrieben: „Ich brenne vom Wunsch, am Neuaufbau in Berlin teilnehmen zu können und zwar glaube ich, auf zwei Gebieten einen wichtigen Einsatz leisten zu können:
- auf dem Gebiet des Russischlernens
- auf dem Gebiet der humanistischen Wissenschaften, speziell in der Philosophischen Fakultät.
Obwohl die Neuankömmlinge in dieser Situation eigentlich überall eingesetzt wurden – Steinitz schreibt, er hätte auch zweiter Bürgermeister in Zehlendorf werden können -, klappte bei ihm alles nach Wunsch. Noch in diesem ersten Brief, den er vermutlich im Februar 1946 nach Stockholm sandte, konnte er mitteilen, er sei außerordentlicher Professor an der Berliner Universität geworden, außerdem designierter kommissarischer Leiter des Finnisch-Ungarischen Instituts, das er erst einmal gründen musste, sowie Mitglied der Kommission für Russisch-Lehrbücher und -Unterricht bei der Zentralverwaltung für Volksbildung.
Nach einigen Nächten in einem Übernachtungsheim der Partei zog Steinitz erst einmal mit seinem Schwager Jürgen zu dessen Mutter und Schwester nach Zehlendorf in die Onkel-Tom-Straße 11 z. Beide richteten sich dort in einem halben Zimmer ein. Jürgens Mutter kochte für sie, und sie teilten mit ihr die aus Schweden mitgebrachten Kostbarkeiten wie Butter, Käse und Wurst sowie ihre Rationen von der bevorzugten Lebensmittelkarte. Natürlich konnte das Zusammenwohnen auf engstem Raum nur ein vorläufiger Zustand sein. Sie störten sich gegenseitig, und Wolfgang Steinitz war immer froh, wenn sein Schwager unterwegs war und er das Zimmer für sich hatte. „Über uns wohnt Jürgens Tante, in dem großen Zimmer hat sie zwei alte Nazi-Hexen, die sofort ausgewiesen würden, wenn ich das Zimmer anforderte“, schreibt Wolfgang an Inge und fährt fort: „Wir sind als Opfer des Faschismus anerkannt, mit Ausweis, was hier sehr selten ist und zu allerlei berechtigt.“
Außer diesen beiden alten Frauen, zu denen sich Steinitz übrigens immer höflich verhielt, wie er betont, kommen in seinen Schilderungen keine Nazis vor. Der Schreiber reflektiert auch nicht darüber, wo sie plötzlich alle geblieben sind. Nur Jürgen Peters erwähnt in einem seiner Briefe in einem Nebensatz, „von Mitverantwortung“ wolle hier niemand etwas hören, und beklagt sich darüber, dass die Leute „nicht erinnert“ werden wollten. Was Wolfgang Steinitz vor allem beschäftigt, ist die Apathie vieler Menschen: „die seelische Zerstörung, Zerrüttung, die Hoffnungslosigkeit und der Pessimismus bei weiten Kreisen, besonders der Jugend“. Es gebe wenig „wirkliche Kerls, Menschen mit ruhiger Initiative“, schreibt er. Ausführlich äußert er sich auch zu einem anderen Problem, mit dem er konfrontiert war, weil die Berliner darüber vermutlich häufiger sprachen als über die NS-Vergangenheit: die Willkür der sowjetischen Besatzungsmacht:
„Der Krieg hat schwere geistige Zerstörungen gebracht, nicht nur unter den Deutschen. Und jede Okkupation wirkt zersetzend auf die Okkupationsmacht – auch das begreift man erst richtig hier […]. Man versteht nämlich, daß es so sein muss: diese jungen Menschen, die hier in Ausnahmestellung stehen, eine Macht haben, denen kein Deutscher etwas sagt, haben oft nicht die moralische Stärke, die notwendig ist, um ihre Stellung und Macht nicht zu mißbrauchen, dabei handelt es sich jetzt gar nicht um groben Mißbrauch, sondern um Kleinigkeiten, die aber doch so wichtig sind. Im Anfang ist viel Trauriges geschehen, das noch tief nachwirkt.“
Das im Anfang geschehene „Traurige“, ist offenbar eine Anspielung auf die zahlreichen Vergewaltigungen. Aber was meinte der Schreiber mit Kleinigkeiten? Den Umgangston der Soldaten und Offiziere? Diebstähle und Schikanen? Steinitz ist erkennbar um Erklärung bemüht, aber offenbar war er über das tatsächliche Ausmaß der Gewalt, über die Rolle der Geheimpolizei sowie über die Speziallager nicht informiert oder er ließ solche Informationen nicht an sich heran. Wie sollte er auch! Die Russen waren für ihn vor allem die Befreier – und sie waren seine wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen die alten Strukturen, im Kampf um eine neue Gesellschaft, so wie er sie verstand. Sie halfen ihm, an der Berliner Universität sehr schnell den Platz einzunehmen, den er für sich erhofft hatte. Steinitz’ Aktivitäten in den ersten Jahren nach der Rückkehr aus dem Exil waren letztlich entscheidend von seinen engen Beziehungen zur sowjetischen Besatzungsmacht geprägt.
Briefe zwischen Kommen und Gehen
BasisDruck Berlin 1992 und trafo Berlin 2003
Nur noch antiquarisch erhältlich
Kurz Information
„Ich lobe mir den September, diesen belichteten Monat, schön wie Schumanns V. Symphonie. Ein Zwischenmonat ist er, der September, zwischen Leben und Sterben steht er, aber doch beim Leben. Zwischen Kommen und Gehen, aber noch beim Kommen.“
Dagobert Lubinski, Zuchthaus Lüttringhausen, 18. September 1938
Jahrzehnte nach dem Tod ihres Großvaters Dagobert Lubinski in Auschwitz liest Annette Leo dessen Briefe. Aus Gefängnis und Zuchthaus an die Familie gerichtet, waren sie für ihn Ort des Lebens, ein Faden in die Zukunft. Für die in der DDR lebende Enkelin werden sie zum Ausgangspunkt eine jahrelangen Suche – nicht nur nach dem unbekannten Großvater, auch nach ihrem eigenen Platz in der Gesellschaft, in der es soviel Schweigen und Tabus gibt.
Textauszug
Solange ich denken kann, stand sein Bild im Wohnzimmerregal. Er war immer anwesend im Alltag der Familie, ohne daß wir noch bewußt hinschauten oder über ihn sprachen. Aber hin und wieder erfuhr ich etwas über ihn, Splitterchen eines Bildes, das ich mir nicht zusammensetzte: Daß er Kommunist war, daß die Nazis ihn umgebracht hatten. Eine ganz alte Ausgabe des Kommunistischen Manifests stand in unserem Bücherregal, die stammte von ihm. Meine Mutter erzählte, daß er Rosa Luxemburg noch persönlich gekannt hatte. Irgendwann erwähnte; sie auch, daß er aus der KPD ausgeschlossen worden war und Mitglied einer anderen Partei wurde, die sich KP Opposition nannte.
Er verdrehte gern Sprichwörter. Meiner Mutter schrieb er ins Poesiealbum: »Wie man sich bettet, so schallt es heraus …«, ohne Rücksicht auf ihre Tränen wegen der Blamage vor den Freundinnen. Er konnte nicht schwimmen. Wasser hat keine Balken, pflegte er zu sagen. Seine Ängstlichkeit muß tyrannisch gewesen sein. Aus der Zeitung las er seinen Töchtern wirkliche oder ausgedachte Unfälle vor, die sich beim Schwimmen und Radfahren ereignet hatten. Außerdem war er prüde und zeigte sich seinen Kindern niemals nackt. Die Mädchen schauten abends heimlich durch das Schlüsselloch der Schlafzimmertür, um endlich zu erfahren, wie ihr Vater ohne Hosen aussah. Am merkwürdigsten fand ich seine Abneigung gegen das Weihnachtsfest. Meine Großmutter brachte in den ersten Jahren ihrer Ehe viel Überredungskunst auf, damit die Kinder ihren Weihnachtsbaum bekamen. Als Kompromiß soll er einen Sowjetstern auf der Spitze verlangt haben. Heute denke ich, daß das auch mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhing, von der er sich losgesagt hatte. Aus diesem Blickwinkel war Weihnachten irgendein religiöses Fest, nicht bedeutungsvoller als jene Rituale, die er beschlossen hatte, nicht mehr zu begehen.
Seit wann wußte ich, daß er Jude war? Ich kann es nicht sagen. Früheres und späteres Wissen vermischen sich in meiner Erinnerung.